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Decentralized Finance (DeFi), also dezentralisierte Finanzanwendungen, sind gegenwärtig wohl der größte Innovationstreiber in Sachen Blockchain-Anwendungen. Und hier ist es vor allem die Ethereum-Blockchain, die die meisten DeFi-Anwendungen vorzuweisen hat. Der Grund dafür: Ethereum war die erste programmierbare Blockchain. Sie ermöglichte es erstmals, dezentral (nämlich auf der Blockchain) abgespeicherte Computerprogramme, sog Smart Contracts, wie Intermediäre einzusetzen, um Vermögenswerte in Form von Token nach vordefinierten Regeln zu verwalten.
Der Erfolg von Ethereum zog dabei durchaus Probleme nach sich. Bedenkt man, dass die gesamte Welt auf Ethereum zugreifen kann, so ist der gegenwärtige Durchsatz von 15 Transaktionen pro Sekunde verschwindend gering. In Zeiten hoher Aktivität auf der Blockchain waren prohibitiv hohe Transaktionsgebühren im mittleren zweistelligen Eurobereich die Folge. Ein Hemmnis für die Technologie, um sich als echte Alternative zu traditionellen Intermediären zu etablieren.
Dieses Problem soll durch den Wechsel des Konsensalgorithmus bei Ethereum beseitigt werden, also jenes Regelwerks, nach dem sich bestimmt, wer als nächstes einen Block erzeugen darf.1 Erste Schritte dazu wurden bereits erfolgreich umgesetzt. Mit dem für die nahe Zukunft erwarteten "Merge" wird Ethereum vom derzeitigen Proof-of-Work auf eine skalierbare Form des Proof-of-Stake umgestellt. Der Unterschied? Es sind nicht mehr Miner, die neue Blöcke erzeugen, sondern Validatoren. Und es ist keine energiehungrige Hardware mehr nötig, um rechenintensive Aufgaben zu lösen. Stattdessen setzen Validatoren eigene Ether als Einsatz ein, um am Konsensmechanismus teilzunehmen. Dafür erhalten sie, wie auch beim Proof-of-Work, eine Belohnung in Form von Ether. Zuletzt soll durch die Einführung von Shards ein Durchsatz von Tausenden Transaktionen pro Sekunde erreicht werden.
Sobald das Flaschenhals-Problem beseitigt wurde, ist Ethereum der beste Kandidat, das Rückgrat für die kommende DeFi-Welle zu bilden. Vor diesem Hintergrund ist auch eine der jüngsten Entwicklungen zu sehen: Das Aufkommen eines eigenen Referenzzinssatzes für das Ethereum-Netzwerk.
Ein Referenzzinssatz ist nach traditionellem Verständnis ein durchschnittlicher Zinssatz, zu dem Banken bereit sind, einander gegenseitig Kredit zu gewähren. So bezeichnet der Euribor etwa die durchschnittlichen Zinssätze, zu denen europäische sog Panel-Banken einander Anleihen in Euro gewähren. Der Euribor dient als Referenz für viele Finanzprodukte, von Spareinlagen über Hypothekarkredite bis hin zu komplexen Finanzinstrumenten. Referenzzinssätze machen Angebote in der Finanzwelt vergleichbar; ein Aufschlag auf den Euribor signalisiert etwa eine Risikoeinschätzung.
Referenzsätze wie der Euribor sind meist nur zu einem kleinen Teil marktgesteuert. Die von der EZB vorgegebenen Raten für die Einlagen- und die Spitzenrefinanzierungsfazilität bestimmen maßgeblich auch den Euribor. Im Gegensatz dazu ist die Blockchain von Dezentralität geprägt. Wie kann ein auf Ethereum basierender Referenzzinssatz ohne zentrale Instanz funktionieren? Nur auf eine Weise: völlig marktgesteuert.
Der ETH.STORE, kurz für Ether Staking Offered Rate, stellt den durchschnittlichen Ertrag dar, ausgedrückt in Prozent per annum, den ein Validator im Ethereum-Netzwerk für das Staken von Ether in einem bestimmten Zeitraum erwarten kann. Dieser Ertrag hängt ua davon ab, wie viele Validatoren am Validierungsprozess teilnehmen und wie viele Transaktionen bestätigt werden sollen. Die Details der Berechnung sind komplex,2 im Wesentlichen geht es aber darum, die Gesamtmenge der Ether zu ermitteln, die aktuell gestaked wird, und diese Menge dem Gesamtertrag aller aktiver Validatoren gegenüberzustellen. Je mehr Validatoren am Prozess teilnehmen, desto geringer ist der zu erwartende Ertrag des Einzelnen; der ETH.STORE fällt und Alternativen zum Staking werden attraktiver. Je weniger Validatoren in der Folge am Validierungsprozess teilnehmen, desto höher ist der zu erwartende Ertrag des Einzelnen; der ETH.STORE steigt.
Im Gegensatz zum Euribor ist der ETH.STORE so konzipiert, nicht von einer zentralen Stelle beeinflusst zu werden. Vielmehr ist er vollständig marktgesteuert und für jedermann objektiv überprüfbar. Der Quellcode, der zur Berechnung des ETH.STORE dient, ist als Open Source verfügbar und kann frei verwendet werden.3
Der ETH.STORE ist quasi die Antwort auf die Frage: Welchen Ertrag kann ich erwarten, wenn ich meine Ether nicht anderweitig verwende (sie also nicht etwa einem Dritten leihe), sondern selbst stake? Damit bildet der ETH.STORE eine Art Basisverzinsung ohne Gegenparteirisiko ab, an der sich der Ertrag in Ether notierender Finanzprodukte messen lässt. Basieren die Konditionen eines in Ether notierenden Finanzinstruments auf dem ETH.STORE, so können Marktteilnehmer Risikoprämien einkalkulieren und das Risiko auch klar identifizieren. Dies kann letztlich zu einem transparenteren Markt führen.
Der ETH.STORE ist nur eines von vielen Beispielen, wie sich Entwicklungen der traditionellen Finanzmärkte im Blockchain-Bereich wiederholen. Wie in den allermeisten anderen Beispielen auch wiederholt sich die Entwicklung aber mit einer Besonderheit: Dem Entfall von Intermediären.
Zur rechtlichen Einordnung des Konsensmechanismus siehe Völkel, ZFR 2019, 601 (602).
Eine detailliertere Beschreibung der Berechnung des ETH.STORE samt Erklärung des Quellcodes sowie ein Rechenbeispiel können unter www.svlaw.at/en/ETH.STORE nachgelesen werden.