Judikatur / VwGH / Kapitalmarktrecht

Anmerkung zu VwGH 27. 4. 2017, Ro 2016/02/0020 ua

Bearbeiter: Gernot Wilfling

Die gegenständliche Entscheidung beendet eine mehrjährige Auseinandersetzung zwischen VERBUND und FMA. Bereits zum zweiten Mal binnen gut eines Jahres mit der Frage befasst, bestätigt der VwGH nun endgültig, dass der Abschluss des gegenständlichen Memorandums of Understanding ("MoU") durch den VERBUND ein ad-hoc-meldepflichtiger Umstand war.

Den Entscheidungen liegt verkürzt folgender Sachverhalt zugrunde:1 Der VERBUND schloss am 20. 6. 2012 mit einem deutschen Energiekonzern ein MoU betreffend einen Asset Swap. Getauscht werden sollte das Türkei-Geschäft des VERBUND, bestehend aus einer 50%-Beteiligung an einem türkischen Joint-Venture, gegen (im Wesentlichen) Wasserkraftwerke und Kraftwerksbeteiligungen des deutschen Konzerns. Mit dem MoU sollten "die Voraussetzungen für eine Transaktion" geschaffen werden. Die zu tauschenden Assets wurden definiert, ebenso welche Assets bzw Zahlungen mangels Realisierbarkeit ersatzweise zu leisten seien. Die Bewertung von Leistung und Gegenleistung erfolgte im MoU zunächst im Rahmen einer Grobevaluierung, wobei ein Prozedere für nachträgliche Anpassungen definiert wurde. Zum Zeitpunkt des Abschlusses waren weder der Aufsichtsrat des VERBUND noch dessen türkischer Joint Venture-Partner eingebunden. Erforderliche Gespräche mit finanzierenden Banken und zustimmungspflichtigen Behörden hatten ebenso wenig stattgefunden wie die wechselseitige Due Diligence. Zwar gab es eine Verpflichtung für beide Parteien, bis zum Ablauf des MoU mit keinem Dritten zu verhandeln. Einen Anspruch auf Durchführung der Transaktion vermittelte das MoU jedoch nicht und die Verhandlungen hätten ohne Angabe von Gründen und Ansprüchen der anderen Partei jederzeit abgebrochen werden können. Nach den Feststellungen sei zudem aufgrund der Komplexität der wirtschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten nicht absehbar gewesen, ob die Transaktion überhaupt durchführbar sei.

Auf diesen Sachverhalt war noch § 48d Abs 1 BörseG idF BGBl I 2012/35 anwendbar, er ist aber laut VwGH unter der seit 3. 7. 2016 geltenden Marktmissbrauchsverordnung ("MAR")2 gleich zu beurteilen.3 Gem § 48d Abs 1 BörseG idF BGBl I 2012/35 hatten Emittenten von Finanzinstrumenten Insiderinformationen, die sie unmittelbar betreffen, unverzüglich der Öffentlichkeit bekannt zu geben.4 Die größte Herausforderung bei dieser "Ad-hoc-Publizität" ist in der Praxis, in zeitlich gestreckten Vorgängen das Vorliegen einer Insiderinformation (§ 48a Abs 1 Z 1 BörseG idF BGBl I 2012/35) zu beurteilen. Im Zentrum der Diskussion stehen zwei Fragen: Ab wann liegt eine "genaue" (nach neuer Terminologie: "präzise") Information vor? Wie ist die Eignung, den Kurs eines Finanzinstruments erheblich zu beeinflussen, bei Zwischenschritten im zeitlich gestreckten Sachverhalt zu beurteilen? Die beiden weiteren Kriterien für das Vorliegen einer Insiderinformation ("öffentlich nicht bekannt" und "direkt oder indirekt einen Emittenten von Finanzinstrumenten oder ein Finanzinstrument betreffend") sind regelmäßig erfüllt und spielen daher bei der Beurteilung meist keine Rolle.

Mit der ersten Frage hatte sich der VwGH in der ersten VERBUND-Entscheidung 20165 bereits zum wiederholten Mal6 beschäftigt: Nachdem das BVwG dem Abschluss des MoU den Charakter einer Insiderinformation mangels "genauer/präziser In-


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formation" abgesprochen hatte, urteilte der VwGH im ersten Rechtsgang, dass der Abschluss des MoU bei entsprechender Kursbeeinflussungseignung eine Insiderinformation sei. Dabei erkannte der VwGH zwar an, dass das Endereignis (also der Abschluss des Asset Swaps) zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinreichend wahrscheinlich gewesen war und deshalb bezüglich des Endereignisses noch keine "genaue/präzise" Information vorlag. Spätestens seit der EuGH-Entscheidung Geltl 7 ist aber bekanntlich auch zu prüfen, ob ein eingetretener oder hinreichend wahrscheinlicher Zwischenschritt in einem zeitlich gestreckten Vorgang für sich genommen eine Insiderinformation ist. Im konkreten Fall war ein potenziell relevanter Zwischenschritt, nämlich der Abschluss des MoU, bereits eingetreten. Für die Beurteilung des Kriteriums "genaue/präzise Information" war daher lediglich noch die Frage nach der Kurspezifizität zu beantworten. Diese bejahte der VwGH nach meinem Verständnis primär deswegen, weil im gegenständlichen MoU konkrete Ausführungen zu Transaktionsgegenständen, grobe Leitlinien für die Ermittlung der Kaufpreise, zum Teil auch vorläufig bezifferte Kaufpreise und Ersatzzahlungen bzw -assets definiert waren. Dabei dürfte es auch auf das (laut VwGH) aus dem MoU ersichtliche ernsthafte Interesse an der Abwicklung der Transaktion ankommen. Die Unverbindlichkeit des MoU war für das Höchstgericht dagegen ebenso unbedeutend wie der Umstand, dass das Endereignis (also der erfolgreiche Abschluss des Asset Swaps) zum Zeitpunkt des MoU völlig ungewiss war.

Im fortgesetzten Verfahren hatte sich das BVwG daher nur noch mit der Frage der erheblichen Kursbeeinflussungseignung des MoU zu befassen und bejahte diese ebenso wie der VwGH in der gegenständlichen Entscheidung. Für die Beurteilung der Kurserheblichkeit stellte das BVwG über den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus zahlreiche Umstände fest, welche die (erheblichen) Auswirkungen der Transaktion auf die gesamte Geschäftsstrategie des VERBUND untermauern sollten (Änderung bei den Kernmärkten in geografischer und sachlicher Hinsicht, in das Joint Venture getätigte und [nun doch nicht mehr] zu tätigende Investitionen, Gesamttransaktionswert, Realisierung von Buchgewinnen, Auswirkungen auf den Cashflow und das Risikoprofil des VERBUND etc), die nach Ansicht des BVwG die Kursbeeinflussungseignung begründeten.

Der VwGH wiederholt in der gegenständlichen Entscheidung zunächst, dass es nach seiner Rsp für die Eignung einer Information zur erheblichen Kursbeeinflussung darauf ankommt, wie ein verständiger Anleger die Information ex ante anhand ihres Inhaltes und ihres Kontextes im Marktgeschehen beurteilen würde. Würde er die Information wahrscheinlich als Teil der Grundlage für seine Anlageentscheidung nutzen, ist das Tatbestandselement der Kurserheblichkeit erfüllt. Dazu soll im Fall eines nicht bereits eingetretenen Ereignisses der Grad der Wahrscheinlichkeit ebenso eine Rolle spielen, wie die möglichen Auswirkungen der Information in Betracht gezogen werden sollten. Dies deutet mE zunächst (nur) für den Fall, dass das Vorliegen einer Insiderinformation im Falle eines noch nicht eingetretenen Zwischenschritts oder Endereignisses beurteilt wird, auf einen Probability/Magnitude-Test auf Ebene der Kurserheblichkeit hin. Eine hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit des zu prüfenden Zwischenschritts oder Endereignisses wäre diesfalls vorausgesetzt, sonst würde die Qualifikation als Insiderinformation schon am Vorliegen einer "genauen/präzisen" Information scheitern. In weiterer Folge führt der VwGH jedoch aus, dass "es nicht ausgeschlossen werden [kann], dass eine Information über ein Ereignis, dessen Eintritt wenig wahrscheinlich ist, den Kurs der Titel des Emittenten spürbar beeinflusst, weil die Folgen besonders weitreichend wären". Diese Aussage wiederum deutet darauf hin, dass (wie im gegenständlichen Fall) bei der Prüfung von bereits eingetretenen Zwischenschritten, aber noch nicht hinreichend wahrscheinlichem Endereignis, die Eintrittswahrscheinlichkeit des Endereignisses mit den Auswirkungen des Bekanntwerdens auf den Kurs in Relation zu setzen ist (Probability/Magnitude-Test unter Rückgriff auf die Eintrittswahrscheinlichkeit des - allenfalls auch noch nicht hinreichend wahrscheinlichen - Endereignisses). Einige Zeilen später wiederum attestiert der VwGH, dass bei bereits eingetretenen Zwischenschritten "die Eignung zur erheblichen Beeinflussung des Kurses freilich im Hinblick auf diesen Zwischenschritt eigenständig zu beurteilen" ist. Dabei "kann (und: wird auch in der Regel)" die Wahrscheinlichkeit des Endereignisses bedeutend sein. Das klingt mE nicht mehr unbedingt nach definitiver Anordnung des Probability/Magnitude-Tests. Noch ein paar Zeilen weiter, nämlich bei der Beurteilung des konkreten Sachverhalts, wird die Sache mE klar: Schon die Information über den Abschluss des MoU ist laut VwGH - im Hinblick auf die damit in Aussicht gestellten gravierenden Auswirkungen auf die Geschäftsstrategie des VERBUND - kurserheblich gewesen und der verständige Anleger hätte Dispositionen treffen können, wenn ihm die Information über den angedachten Asset Swap bzw über den Beginn der Verhandlungen bekannt gegeben worden wäre.8 Dabei handelt es sich um eine vom Endereignis und deren Eintrittswahrscheinlichkeit losgelöste Beurteilung.

Welche Schlüsse kann der Praktiker daraus ziehen? Zunächst zeigt sich einmal mehr klar, dass in zeitlich gestreckten Sachverhalten die Veröffentlichungspflicht gem Art 17 MAR schon sehr früh eintreten kann. Für den Abschluss jeglicher MoUs, Letters of Intent etc verallgemeinerungsfähig ist die Entscheidung allerdings nicht. Der Abschluss eher allgemein und vage gehaltener Absichtserklärungen wäre mE nach VwGH-Ansicht gerade nicht als Insiderinformation zu qualifizieren. Wie der Fall bei volumensmäßig großen Transaktionen ohne gravierende Auswirkungen auf die Geschäftsstrategie eines Unternehmens liegt, geht aus der Entscheidung zudem nicht hervor.


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Die Unsicherheit bleibt freilich weiterhin groß und die Praxis wird in zeitlich gestreckten Sachverhalten verstärkt mit Aufschüben (Art 17 Abs 4 MAR) arbeiten (müssen).9 Seit Inkrafttreten der MAR sind Aufschübe nicht mehr vorab der FMA zu übermitteln, sondern erst unverzüglich nach der späteren Veröffentlichung der zunächst aufgeschobenen Information. Um das Risiko von Verwaltungsstrafen zu minimieren, kommt es neben Vorkehrungen zur Vertraulichkeit wesentlich darauf an, die berechtigten Interessen am Aufschub gut zu begründen. Leitlinien der ESMA10 können unter Umständen dabei helfen. Aus Art 4 DVO 2016/105511 ergeben sich darüber hinaus zahlreiche Aufzeichnungs- und Evaluierungspflichten für Emittenten. All dies macht Aufschübe zugegeben praktisch mühsam. Vor dem Hintergrund der Rsp der letzten Jahre sind sie aber oft alternativlos, will man nicht schon sehr früh in einem zeitlich gestreckten Sachverhalt veröffentlichen.

1

Siehe VwGH 20. 4. 2016, Ra 2015/02/0152 und 0153. Über die gegenständliche Causa wurde umfangreich - unter Nennung des Unternehmensnamens - in den Medien berichtet.


2

VO (EU) 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 4. 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchs-VO) und zur Aufhebung der RL 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der RL 2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission.


3

VwGH 20. 4. 2016, Ra 2015/02/0152 und 0153, und 27. 4. 2017, Ro 2016/02/0020.


4

Ganz ähnlich nun Art 17 MAR: "Emittenten geben der Öffentlichkeit Insiderinformationen, die unmittelbar diesen Emittenten betreffen, so bald wie möglich bekannt"; gefordert ist nach Behördenpraxis im Regelfall eine Veröffentlichung binnen weniger Stunden.


5

VwGH 20. 4. 2016, Ra 2015/02/0152 und 0153.


6

Siehe etwa auch VwGH 24. 3. 2014, 2012/17/0118, und 29. 4. 2014, 2012/17/0554 und 0555.



8

Bereits kurz davor in der Entscheidungsbegründung hatte der VwGH erneut deutlich klargestellt, dass es für die Beurteilung von Zwischenschritten nicht entscheidend ist, ob das Endereignis bereits hinreichend wahrscheinlich ist (was vor dem Hintergrund der Entscheidungen der letzten Jahre freilich keine Überraschung mehr ist).


9

Für Details zu diesem Instrument siehe Wilfling, Praxishandbuch Börserecht 198 ff.


10

MAR-Leitlinien Aufschub der Offenlegung von Insiderinformationen vom 20. 10. 2016 (ESMA/2016/1478).


11

DVO (EU) 2016/1055 der Kommission vom 29. 6. 2016 zur Festlegung technischer Durchführungsstandards hinsichtlich der technischen Mittel für die angemessene Bekanntgabe von Insiderinformationen und für den Aufschub der Bekanntgabe von Insiderinformationen gem VO (EU) 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates.


12

RA Mag. Gernot Wilfling ist Partner bei Müller Partner Rechtsanwälte.


Artikel-Nr.
ZFR 2017/166

20.07.2017
Heft 7/2017